Arbeitsrecht

EuGH: Deutsche Mitbestimmung mit EU-Recht vereinbar

19.07.2017
 (1)

Der Ausschluss der außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer eines Konzerns vom aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen der  Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der deutschen Muttergesellschaft verstößt nicht gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

EuGH, Urteil v. 18.7.2017 – C-566/15

Quelle: EuGH, Pressemitteilung Nr. 81/2017 vom 18. Juli 2017

Der Fall:

Die TUI AG, eine deutsche Aktiengesellschaft, steht an der Spitze des weltweit tätigen Touristikkonzerns TUI. Der Konzern beschäftigt in Deutschland über 10 000 Personen und in den übrigen Mitgliedstaaten der Union fast 40 000 Personen.

Herr Konrad Erzberger ist Anteilseigner der TUI AG. Er wendet sich vor den deutschen Gerichten gegen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats dieser Gesellschaft, der mit der Überwachung des das Unternehmen leitenden Vorstands betraut ist. Nach dem deutschen Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer werden die Mitglieder des Aufsichtsrats der TUI AG jeweils zur Hälfte von den Anteilseignern und den Arbeitnehmern bestimmt.

Herr Erzberger macht geltend, das deutsche Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer verletze das Unionsrecht, da es vorsehe1 , dass nur die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer der Konzerns die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wählen könnten und in den Aufsichtsrat wählbar seien. Dass die bei einer Tochtergesellschaft der TUI-Gruppe in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer – bei denen es sich in der Regel nicht um deutsche Staatsangehörige handeln werde – an der Zusammensetzung des Aufsichtsrats der TUI AG nicht mitwirken dürften, verstoße daher gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus sei der Verlust der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat bei einer Versetzung in einen anderen Mitgliedstaat geeignet, die Arbeitnehmer davon abzuhalten, von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen.

In diesem Zusammenhang hat das Kammergericht (Deutschland) beschlossen, den Gerichtshof zur Vereinbarkeit des deutschen Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer mit dem Unionsrecht zu befragen.

Die Entscheidung:

In seinem heutigen Urteil unterscheidet der Gerichtshof zwei Fallgestaltungen.

Zu den bei einer Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern der TUI-Gruppe stellt der Gerichtshof fest, dass ihre Situation nicht anhand des allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu prüfen ist, sondern anhand der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die ein besonderes Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit für den Bereich der Arbeitsbedingungen darstellt.

Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass die Situation der fraglichen Arbeitnehmer nicht unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt. Die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sind nämlich nicht auf Arbeitnehmer anwendbar, die nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben oder Gebrauch machen wollen. Dass die Tochtergesellschaft, bei der die betreffenden Arbeitnehmer tätig sind, von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Deutschland) kontrolliert wird, ist insoweit ohne Bedeutung.

Zu den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern der TUI-Gruppe, die ihre Stelle aufgeben, um eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns anzutreten, stellt der Gerichtshof fest, dass ihre Situation grundsätzlich unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt. Ihre Situation ist daher nicht anhand des allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu prüfen.

Der Verlust des aktiven und des passiven Wahlrechts für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der deutschen Muttergesellschaft sowie gegebenenfalls der Verlust des Rechts auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats stellen jedoch keine Behinderung der Freizügigkeit dar.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer garantiert einem Arbeitnehmer nämlich nicht, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinen Herkunftsmitgliedstaat in sozialer Hinsicht neutral sein wird. Ein solcher Umzug kann aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für den betreffenden Arbeitnehmer je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in diesem Bereich haben. Daher verschafft die Arbeitnehmerfreizügigkeit dem Arbeitnehmer nicht das Recht, sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die Arbeitsbedingungen zu berufen, die ihm im Herkunftsmitgliedstaat nach dessen nationalen Rechtsvorschriften zustanden.

Das Unionsrecht hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, im Bereich der kollektiven Vertretung und Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen in den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen Rechts – der bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene war – vorzusehen, dass die von ihm erlassenen Vorschriften nur auf die Arbeitnehmer inländischer Betriebe Anwendung finden.

Im vorliegenden Fall gehört die durch das deutsche Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer eingeführte Mitbestimmungsregelung, die darauf abzielt, die Arbeitnehmer durch gewählte Vertreter in die Entscheidungs- und strategischen Organe der Gesellschaft einzubeziehen, sowohl zum deutschen Gesellschaftsrecht als auch zum deutschen kollektiven Arbeitsrecht, deren Anwendungsbereich Deutschland auf die bei inländischen Betrieben tätigen Arbeitnehmer beschränken kann, sofern eine solche Beschränkung auf einem objektiven und nicht diskriminierenden Kriterium beruht.

Was insbesondere den Verlust der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat nach einer Versetzung in einen anderen Mitgliedstaat betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass dies nur die Folge der legitimen Entscheidung Deutschlands ist, die Anwendung seiner nationalen Vorschriften im Bereich der Mitbestimmung auf die bei einem inländischen Betrieb tätigen Arbeitnehmer zu beschränken.

Beraterhinweis: 

Die Entscheidung ist auf Vorlage des Berliner Kammergerichts (entspricht einem Oberlandesgericht) vom 16.10.2015 (14 W 89/15) ergangen. Der EuGH hat - wie meistens - entsprechend den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 4.5.2017 entschieden. Die Entscheidung ist von großer praktischer Relevanz. Durch die Entscheidung des EuGH ist die entstandene Rechtsunsicherheit für mitbestimmte, übernational agierende Unternehmen nunmehr beseitigt. Wäre die Entscheidung anders ausgegangen und wären die ausländischen Beschäftigten somit an der Wahl zu beteiligen, wurden Auswirkungen diverse Aufsichtsräte befürchtet. Es wurde auch davon ausgegangen, dass die Wahl der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat komplizierter und kostspieliger geworden wäre.

Diesen Artikel bewerten
Über den Autor

Gesamt:

Dr. Artur Kühnel
Rechtsanwalt • Fachanwalt für Arbeitsrecht
Jungfernstieg 40
20354 Hamburg

Telefon: 040 / 34 80 99 – 0


Honorar/Leistung: (0)
Erreichbarkeit: (0)
Verständlichkeit: (0)
Freundlichkeit: (0)
Diesen Rechtsanwalt bewerten
Vereinbaren Sie hier eine Rechtsberatung zum Artikel-Thema:
Kontaktieren Sie hier Fachanwalt Dr. Artur Kühnel:
* Pflichtfeld
Ja, ich willige ein, dass meine im „Kontaktformular“ eingetragenen personenbezogenen Daten zum Zwecke der Angebotsvermittlung per Fax und E-Mail an den zu kontaktierenden Anwalt übermittelt und gespeichert werden. Diese jederzeit widerrufliche Einwilligung sowie die Verarbeitung und Datenübermittlung durch Dritte erfolgen gem. unserer Datenschutzerklärung.
Kontaktieren
Weitere Artikel des Autors
Arbeitsrecht Wann Arbeitnehmer in der Freizeit erreichbar sein müssen
21.12.2023

Müssen Arbeitnehmer Weisungen des Arbeitgebers auch während ihrer Freizeit zur Kenntnis nehmen? Und wenn man dies bejaht: unter welchen Voraussetzungen?  Anm.: Dieser Beitrag ist in leicht abgewandelter Form auch als Beitrag im  Expertenforum Arbeitsrecht (#EFAR)  erschienen:  Wann Arbeitnehmer in der Freizeit erreichbar sein müssen Thema Seit jeher wird diskutiert, ob die Freizeit „heilig“ ist, also dass Arbeitgeber Arbeitnehmer während der Freizeit nicht „behelligen“ dürfen, sondern sich auf die Arbeitszeit zu beschränken haben. Müssen Arbeitnehmer etwa auch während ihrer ... weiter lesen

Arbeitsrecht Annahmeverzugslohn: Ein Update zur Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes
23.11.2023

Wenn der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht annimmt, hat Letzterer trotz Nichtarbeit häufig Anspruch auf Annahmeverzugslohn (§§ 615 Satz 1, 293 ff. BGB). Dies gilt vor allem im Anschluss an eine unwirksame Arbeitgeberkündigung. Wenn der Arbeitnehmer Annahmeverzugslohn geltend macht, muss er sich aber etwa anrechnen lassen, was er durch anderweitige Arbeit verdient hat (§ 11 Nr. 1 KSchG bzw. § 615 Satz 2 BGB). Anrechnen lassen muss er sich vor allem aber auch, was er hätte verdienen können, wenn er es nicht böswillig unterlassen hätte, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen (§ 11 Nr. 2 KSchG bzw. § 615 Satz 2 ... weiter lesen

Weitere Artikel der Redaktion zum Thema
Arbeitsrecht Ergonomischer Büroarbeitsplatz mit Merkblatt

Der Begriff "Büroarbeitsplatz" bezieht sich auf die Gesamtheit aller Elemente und Bedingungen, die in einem Büroumfeld zur Durchführung von Arbeitsaufgaben erforderlich sind. Hierzu zählen insbesondere Arbeitsmittel wie Schreibtisch und Bürostuhl, die gemäß den Anforderungen des Arbeitsschutzes ergonomisch gestaltet sein müssen, um gesundheitliche Schäden zu vermeiden und die Arbeitsleistung zu steigern. Rechtliche Grundlagen für Büroarbeitsplätze Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) und die Bildschirmarbeitsverordnung bilden die rechtliche Basis für die Gestaltung von Büro- und Bildschirmarbeitsplätzen in ... weiter lesen

Arbeitsrecht Arbeitsgericht Siegburg urteilt: Keine Diskriminierung bei Nichteinstellung aus gesundheitlichen Gründen

Das Arbeitsgericht Siegburg hat in einem Fall, in dem es um die Rücknahme einer Einstellungszusage für einen schwerbehinderten Bewerber ging, entschieden. Im Mittelpunkt der Verhandlung stand die Frage, ob die Nichteinstellung aufgrund eines ärztlichen Gutachtens eine Diskriminierung darstellt (Az.: 3 Ca 1654/23 ). Stadt zieht Jobzusage an diabetischen Bewerber zurück – Klage wegen Diskriminierung Ein schwerbehinderter Bewerber, der an Diabetes leidet, bewarb sich Anfang 2023 bei einer Stadtverwaltung für eine Ausbildung zum Straßenwärter. Seine Schwerbehinderung gab er dabei offen an. Er erhielt eine vorläufige Zusage, die jedoch von den Ergebnissen einer ... weiter lesen

Arbeitsrecht Nebenbeschäftigung durch Detektei aufgedeckt – was Arbeitgeber jetzt beachten müssen

Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und -geber ist wichtig, Vertrauen allein reicht aber oft nicht aus. Zu den häufigsten Zwischenfällen gehört die Ausübung einer nicht genehmigten Nebentätigkeit durch den Arbeitnehmer. Grundsätzlich ist der Hauptarbeitgeber verpflichtet, einen Nebenjob zu gewähren, sofern die eigenen Interessen davon nicht betroffen sind. So muss der Arbeitnehmer weiterhin mit seiner vollen Arbeitskraft verfügbar sein und darf nicht in konkurrierenden Betrieben arbeiten. Heimlich ausgeführt ist eine Nebentätigkeit nicht erlaubt. Die Aufdeckung erfolgt regelmäßig durch erfahrene Wirtschaftsdetektive, aber was passiert dann?  ... weiter lesen

Arbeitsrecht Verwaltungsgericht Hannover bestätigt Entlassung von Polizeikommissar-Anwärterin

Ein aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover (Az. 2 B 512/24; 2 A 5953/23 ) bekräftigt die Entlassung einer Polizeikommissar-Anwärterin aufgrund ihrer polizeikritischen Äußerungen in sozialen Netzwerken. Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung der Neutralität und des Mäßigungsgebots im Beamtenverhältnis. Polizeianwärterin wegen kritischer Äußerungen in sozialen Medien entlassen Im Zentrum des Rechtsstreits stand eine angehende Polizeikommissarin, gegen die die Niedersächsische Polizeiakademie eine Entlassungsverfügung erließ. Ausschlaggebend waren diverse Äußerungen in sozialen Medien, die als kritisch gegenüber der Polizei ... weiter lesen

Ihre Spezialisten