In einer Entscheidung vom 8. Oktober 2024 hat der Bundesgerichtshof (BGH) klargestellt, dass ein Geschädigter Anspruch auf Ersatz seines Verdienstausfallschadens hat, selbst wenn die ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit objektiv nicht vorlag. Entscheidend ist, ob der Geschädigte berechtigterweise auf die ausgestellte Bescheinigung vertraut hat. Diese rechtliche Bewertung sorgt für Klarheit in einem sensiblen Bereich des Schadensrechts.
Bedeutung des Urteils und der zugrunde liegende Fall
Das Urteil (AZ: VI ZR 250/22) bezieht sich auf den Fall eines Unfallgeschädigten, der in einer Waschstraße von einem Fahrzeug erfasst wurde. Die Verletzungen, darunter eine tiefe Risswunde und Quetschungen am linken Unterschenkel, erforderten eine stationäre Behandlung. Ein Arzt bescheinigte dem Betroffenen eine Arbeitsunfähigkeit vom 8. Mai 2019 bis voraussichtlich 14. September 2020. Ein späteres Gutachten ergab jedoch, dass der Kläger bereits ab dem 5. September 2019 wieder arbeitsfähig war. Trotzdem entschied der BGH, dass der Verdienstausfallschaden unabhängig von der objektiven Arbeitsunfähigkeit geltend gemacht werden kann, sofern der Geschädigte auf die ärztliche Bescheinigung vertraut hat.
Subjektives Vertrauen und rechtliche Einschätzung
Der Bundesgerichtshof betonte die Bedeutung des Vertrauens des Geschädigten in die ärztlich attestierte Arbeitsunfähigkeit. Eine solche Bescheinigung bildet für viele Patienten die wesentliche Grundlage, um ihre Arbeitsfähigkeit einzuschätzen. Besonders hob das Gericht hervor, dass Arbeitsunfähigkeit auch subjektiv bestehen kann, wenn eine Heilung durch eine Rückkehr an den Arbeitsplatz gefährdet oder verzögert würde. Dieses Urteil berücksichtigt die Abhängigkeit vieler Geschädigter von der Einschätzung ihrer behandelnden Ärzte.
Darlegungspflicht des Geschädigten
Der Geschädigte muss umfassend darlegen und beweisen, dass er auf die Richtigkeit der Bescheinigung vertraut hat. Dazu gehört die präzise Mitteilung subjektiv wahrgenommener Beeinträchtigungen sowie die Schilderung der empfundenen Schmerzen gegenüber dem behandelnden Arzt. Dieser ist wiederum verpflichtet, eine fundierte Einschätzung basierend auf diesen Angaben vorzunehmen. Diese enge Wechselwirkung zwischen Arzt und Patient steht im Mittelpunkt der rechtlichen Bewertung und führt zu einer differenzierten Betrachtung der Arbeitsunfähigkeit.
Schadensminderungspflicht als zentrale Obliegenheit
Das Urteil hebt zudem die Verpflichtung des Geschädigten zur Schadensminderung hervor. Das bedeutet konkret, dass der Geschädigte keine Handlungen vornehmen darf, die seine Genesung verzögern oder seinen Gesundheitszustand verschlechtern könnten. Eine Missachtung ärztlicher Empfehlungen, die zu einer Verschlimmerung der Verletzungen führt, kann den Anspruch auf Schadensersatz beeinträchtigen. Das Urteil gleicht somit die Pflichten des Geschädigten mit seinen berechtigten Ansprüchen aus.
Praxis-Tipp für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Für Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat dieses Urteil konkrete Implikationen:
Arbeitgeber sollten bei längeren Krankheitsausfällen sicherstellen, dass gültige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorliegen, und bei Zweifeln gegebenenfalls juristische Schritte in Erwägung ziehen.
Arbeitnehmer sollten darauf achten, keine falschen Angaben zu machen und nachvollziehbar darlegen, dass ihre Beschwerden korrekt beurteilt wurden. Im Falle von Unklarheiten empfiehlt es sich, eine Zweitmeinung einzuholen und alle relevanten Kommunikationen mit Arbeitgebern und Ärzten sorgfältig zu dokumentieren.
Fazit
Das Urteil des Bundesgerichtshofs setzt einen neuen Maßstab für den Ersatz von Verdienstausfällen und stärkt das Vertrauen in ärztlich bescheinigte Diagnosen. Geschädigte können auf eine klare Rechtsgrundlage bauen, sofern sie ihre Sichtweise und die Gründe für ihr Vertrauen schlüssig darlegen. Gleichzeitig bringt die Entscheidung Verantwortung mit sich: Ärzte und Patienten sind gleichermaßen gefordert, ihre Kommunikation und die Entscheidungsgrundlagen sorgfältig zu gestalten. Solche Urteile fördern nicht nur Transparenz, sondern leisten langfristig einen Beitrag zu einem gerechteren Schadensersatzsystem.
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