Das Arbeitsgericht Berlin hat am 19. März 2024 (Az.: 22 Ca 8667/23) entschieden, dass eine behandelnde Ärztin als sachverständige Zeugin aussagen kann, wenn Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers bestehen. Diese Entscheidung hat weitreichende Bedeutung für den Umgang mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) und deren Beweiswert im arbeitsrechtlichen Kontext, da sie zeigt, dass der Beweiswert einer AU unter bestimmten Umständen erschüttert werden kann, was eine ärztliche Zeugenaussage erforderlich macht.
Arbeitsunfähigkeit: Rechtliche Grundlagen
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin basiert auf dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG), insbesondere § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG. Wesentliche Punkte:
- Anspruch auf Entgeltfortzahlung setzt eine ärztliche Bescheinigung voraus.
- Der Beweiswert einer AU kann erschüttert werden, z. B. bei Zweifeln an der Echtheit.
- Arbeitnehmer tragen die Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit.
- Vernehmung des behandelnden Arztes kann zur Klärung beitragen.
Ärztin als Zeugin: Hintergrund des Falls
Eine Reinigungskraft kündigte im Mai 2023 ihr Arbeitsverhältnis zum 15. Juni 2023 und beantragte für die verbleibende Zeit Urlaub. Der Arbeitgeber lehnte diesen Antrag ab. Kurz darauf legte die Arbeitnehmerin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die genau den Zeitraum vom 22. Mai bis 15. Juni 2023 abdeckte. Der Arbeitgeber zweifelte an der Echtheit der AU und verweigerte die Lohnfortzahlung.
In der folgenden Auseinandersetzung vor Gericht bot die Arbeitnehmerin die Vernehmung ihrer behandelnden Ärztin als sachverständige Zeugin an, um ihre Arbeitsunfähigkeit zu beweisen.
Entscheidung des Gerichts
Das Arbeitsgericht Berlin stellte fest, dass der Arbeitgeber den hohen Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert hatte. Dies erfolgte insbesondere durch den Verdacht, dass die Bescheinigung exakt die Dauer der Kündigungsfrist abdeckte und zeitlich unmittelbar auf die Ablehnung des Urlaubs folgte.
Das Gericht folgte dem Beweisantritt der Arbeitnehmerin und hörte die behandelnde Ärztin als sachverständige Zeugin. Nach ihrer Aussage kam das Gericht zu dem Schluss, dass die Arbeitnehmerin an einer Erschöpfungsdepression litt und somit arbeitsunfähig war.
Rechtliche Einordnung
Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Dieser kann jedoch durch bestimmte Umstände erschüttert werden. Solche Umstände können sein:
- Eine zeitliche Verbindung zwischen einer abgelehnten Urlaubsanfrage und der AU.
- Die Tatsache, dass die Bescheinigung genau die Kündigungsfrist abdeckt.
In solchen Fällen ist es Sache des Arbeitnehmers, die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit zu beweisen. Die Vernehmung des behandelnden Arztes oder der Ärztin als sachverständige Zeugen ist hierbei ein geeignetes Beweismittel.
Das Gericht betonte jedoch, dass die Beweiswürdigung des Tatrichters sich nicht in Widerspruch zu der grundsätzlichen Ausgangsüberlegung setzen darf, wonach einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert zukommt.
Praxistipp für Arbeitnehmer
Arbeitnehmer sollten sich der hohen Bedeutung einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bewusst sein. Falls Zweifel an der Echtheit der AU aufkommen, ist es ratsam, den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden, um eine Zeugenaussage zu ermöglichen. Dies kann dazu beitragen, den Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu sichern.
Zudem sollte auf eine lückenlose Dokumentation der medizinischen Behandlung geachtet werden, um im Bedarfsfall ausreichend Beweismittel vorlegen zu können.
Fazit
Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin verdeutlicht, dass bei erschüttertem Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die Vernehmung des behandelnden Arztes als sachverständiger Zeuge entscheidend sein kann. Arbeitnehmer sollten daher im Streitfall bereit sein, ihren Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden, um ihre Ansprüche zu untermauern. Arbeitgeber wiederum sollten sorgfältig prüfen, ob sie den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Zweifel ziehen können, da dies erhebliche Konsequenzen haben kann.
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