Das Bundesverfassungsgericht hat heute das Urteil zur Verfassungsgemäßheit des Bundeswahlgesetzes 2023 verkündet. Während das Zweitstimmendeckungsverfahren als verfassungsgemäß anerkannt wurde, erklärte das Gericht die 5 %-Sperrklausel für verfassungswidrig, lässt sie jedoch unter bestimmten Bedingungen weiter gelten.
Entscheidung des Gerichts: Zweitstimmendeckungsverfahren und Sperrklausel auf dem Prüfstand
Das Urteil vom 30. Juli 2024 - 2 BvF 1/23, 2 BvF 3/23, 2 BvE 2/23, 2 BvE 9/23, 2 BvE 10/23, 2 BvR 1523/23, 2 BvR 1547/23 - stellte fest, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren in § 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Hingegen verstößt die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG gegen Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Sperrklausel bleibt jedoch vorläufig in Kraft, wobei Parteien mit weniger als 5 % der Zweitstimmen bei der Sitzverteilung nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten haben.
Reform des Wahlrechts und Zweitstimmendeckungsverfahren
Im Rahmen der Wahlrechtsreform vom 17. März 2023, beschlossen durch die Regierungsfraktionen, wurde das BWahlG dahingehend geändert, dass jeder Wähler zwei Stimmen hat: eine Erststimme für den Wahlkreiskandidaten und eine Zweitstimme für die Landesliste einer Partei. Die Verteilung der 630 Bundestagssitze erfolgt zunächst nach dem Zweitstimmenergebnis. Erfolgreiche Wahlkreisbewerber rücken in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber die nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, erhalten die Bewerber mit den geringsten Erststimmenanteilen keinen Sitz zugeteilt.
Das Gericht betonte, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren keine Abkehr von den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts darstellt. Der Gesetzgeber darf die Kombination von Verhältniswahl und Wahlkreiswahl neu konzipieren, solange die Wahlgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewahrt bleibt.
Verfassungswidrigkeit der 5 %-Sperrklausel und die Grundmandatsklausel
Die 5 %-Sperrklausel wurde als verfassungswidrig bewertet, da sie Parteien, die weniger als 5 % der bundesweiten Zweitstimmen erhalten, von der Sitzverteilung ausschließt. Diese Ungleichbehandlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweitstimmenergebnis wurde als nicht notwendig erachtet, um die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern.
Das Gericht stellte fest, dass die Sperrklausel geeignet ist, eine Zersplitterung des Parlaments zu verhindern und damit die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sei es jedoch nicht erforderlich, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien zusammen die 5 %-Hürde erreichen würden. Die CSU könnte bei der nächsten Bundestagswahl möglicherweise die 5 %-Sperrklausel nicht überwinden, ihre Abgeordneten würden jedoch mit denen der CDU eine Fraktion bilden.
Zusätzlich wurde die Abschaffung der Grundmandatsklausel im neuen Bundeswahlgesetz thematisiert. Die bisherige Grundmandatsklausel erlaubte es Parteien, die in mindestens drei Wahlkreisen Direktmandate gewinnen, auch dann in den Bundestag einzuziehen, wenn sie bundesweit unter der 5 %-Hürde blieben. Diese Klausel wurde im Zuge der Reform abgeschafft. Das Bundesverfassungsgericht kritisierte, dass das Entfernen dieser Klausel zusätzliche Hürden für kleinere Parteien schafft und deren Chancen auf eine parlamentarische Vertretung weiter einschränkt.
Auswirkungen der Entscheidung
Das Urteil zur Wahlrechtsreform hat weitreichende Auswirkungen auf das deutsche Wahlsystem. Parteien müssen sich auf die neuen Bedingungen des Zweitstimmendeckungsverfahrens einstellen. Die weiterhin geltende 5 %-Sperrklausel, nun mit der Maßgabe, dass Parteien mit weniger als 5 % der Zweitstimmen berücksichtigt werden, wenn sie in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten, bietet kleinen Parteien neue Chancen, solange sie starke Kandidaten in den Wahlkreisen aufstellen. Die Abschaffung der Grundmandatsklausel bedeutet jedoch, dass kleinere Parteien gezielt Wahlkreise gewinnen müssen, um eine parlamentarische Vertretung zu sichern.
Anwaltstipp: Parteien sollten ihre Wahlstrategien anpassen, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Besonders kleine Parteien haben durch die modifizierte Sperrklausel bessere Chancen, wenn sie ihre Wahlkreisarbeit intensivieren. Die fortgesetzte Zusammenarbeit von CDU und CSU zeigt, dass Bündnisse und strategische Partnerschaften innerhalb des politischen Systems entscheidend sein können. Gleichzeitig müssen Parteien ohne starke Wahlkreispräsenz neue Strategien entwickeln, um trotz der Abschaffung der Grundmandatsklausel eine Vertretung im Bundestag zu erreichen.
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(se)