Anmerkungen zum Urteil des Bundesfinanzhofs vom 27.04.2022 (II R 17/20)
Ein Beitrag von Ralph Butenberg, Fachanwalt für Erbrecht und für Steuerrecht
„Nichts in dieser Welt ist sicher, außer dem Tod und den Steuern“ – Benjamin Franklin, 1789.
Niemand, der oder die in der steuerlichen Beratungspraxis tätig ist, wird den obenstehenden Satz bestreiten – Ausnahmen bestätigen die Regel. Mit einem solchen Ausnahmefall hatte sich der Bundesfinanzhof in der Entscheidung vom 27.04.2022 zu befassen. Streitig war, ob bei Erlass des Erbschaftsteuerbescheides bereits Festsetzungsverjährung eingetreten und die Erbschaftsteuerforderung deshalb nicht mehr rechtmäßig festgesetzt werden konnte. Fallfrage war u.a., wann die 4-jährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO (Abgabenordnung) für die Erbschaftsteuer beginnt.
Keine Steuerfestsetzung nach Eintritt der Festsetzungsverjährung
§ 169 Abs. 1 AO (Abgabenordnung) bestimmt, dass das Finanzamt gegen einen Steuerpflichtigen keine Steuerfestsetzung durch Steuerbescheid mehr vornehmen darf, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist bildet ein unüberwindbares Hindernis. Grundsätzlich beträgt die Festsetzungsfrist für die Erbschaftsteuer vier Jahre, § 169 Abs. 2 Ziff. 2 AO (Abgabenordnung), eine erhebliche Verlängerung der Festsetzungsfrist tritt ein, wenn eine Steuerhinterziehung vorliegt – 10 Jahre – oder eine leichtfertige Steuerverkürzung – fünf Jahre. Trotz dieser klaren gesetzlichen Vorgaben steckt der Teufel – natürlich – im Detail. Wann beginnt die Festsetzungsfrist für die Erbschaftsteuer?
Beginn der Festsetzungsfrist bei der Erbschaftsteuer
§ 170 Abs. 5 Ziff. 1 bestimmt, dass die Festsetzungsfrist beginnt „bei einem Erwerb von Todes wegen nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Erwerber Kenntnis von dem Erwerb erlangt hat,“. Wann hat demgemäß der „Erwerber“ Kenntnis von seinem erbrechtlichen Erwerb, wodurch die Festsetzungsfrist in Gang gesetzt wird?
Klarstellung durch den Bundesfinanzhof
In dem vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall war die Erblasserin im Mai 2003 verstorben, der Steuerpflichtige beantragte nach Testamentseröffnung im Dezember 2003 einen Alleinerbschein. Andere Angehörige der Erblasserin traten dem Erbschein entgegen, es kam zu einem konfliktreichen und äußerst langwierigen Erbscheinsverfahren vor dem Nachlassgericht. Nach zwischenzeitlicher Bestellung eines Nachlasspflegers stellte das Nachlassgericht durch Beschluss im Jahr 2012 -also rund 9 Jahre nach dem Erbfall- fest, dass das handschriftliche Testament wirksam und der Kläger Alleinerbe der Erblasserin sei. Den Beschluss des Nachlassgerichts fochten die weiteren Angehörigen der Erblasserin an, das folgende Beschwerdeverfahren endete im Oktober 2017 -rund 14 Jahre nach dem Erbfall- durch rechtskräftige Entscheidung des Beschwerdegerichts. Der Beschluss des Nachlassgerichts aus dem Jahr 2012 blieb demnach wirksam, wonach der im Testament bezeichnete Erbe – der Steuerpflichtige –Alleinerbe der Erblasserin war. Das Finanzamt erließ im Jahr 2018 einen Erbschaftsteuerbescheid, der eine Erbschaftsteuer zulasten des Steuerpflichtigen in Höhe von rund EUR 160.000,00 auswies. Diesem Bescheid trat der Steuerpflichtige mit dem Argument entgegen, dass bereits Festsetzungsverjährung eingetreten und die Steuerfestsetzung deshalb rechtswidrig sei. In erster Instanz vor dem Sächsischen Finanzgericht unterlag der Steuerpflichtige (Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 12.12.2019, 6 K 358/19). Das Finanzgericht ging davon aus, dass die Kenntnis von seinem Erwerb bei dem Steuerpflichtigen erst sicher mit der abschließenden und rechtskräftigen Entscheidung des Beschwerdegerichts im Jahr 2017 vorgelegen habe.
Bundesfinanzhof: Festsetzungsfrist beginnt spätestens mit Beschluss des Nachlassgerichts
Anders entschied der Bundesfinanzhof. Die nach § 170 Abs. 5 Ziff. 1 AO (Abgabenordnung) erforderliche Kenntnis des Steuerpflichtigen von seinem erbschaftsteuerlichen Erwerb aufgrund des Erbfalles liegt vor, wenn er „mit einer solchen Zuverlässigkeit und Gewissheit Kenntnis von seinem unangefochtenen Erbschaftserwerb erlangt habe, wenn keine Umstände vorliegen, die geeignet sein könnte, ernstliche Zweifel an dem Bestand der jeweiligen letztwilligen Verfügung oder an dem Bestand eines Erbfalls aufkommen zu lassen“.
Der Bundesfinanzhof stellt fest, dass die insoweit notwendige Gewissheit bei dem Erben in der Regel dann vorliegt, wenn das zuständige Nachlassgericht die entsprechenden letztwilligen Verfügungen des Erblassers eröffnete, spätestens jedoch dann, wenn das Nachlassgericht durch gerichtliche Entscheidung –Beschluss gemäß § 352e Abs. 1 FamFG– die entsprechenden Tatsachen feststellte, die die Erbenstellung des Steuerpflichtigen begründen. Ausdrücklich weist der Bundesfinanzhof darauf hin, dass die Rechtskraft des entsprechenden Beschlusses des Nachlassgerichts für den Anlauf der Festsetzungsverjährungsfrist gemäß § 170 Abs. 5 Ziff. 1 AO (Abgabenordnung) unerheblich ist. Eine irgendwie geartete Verlängerung der gesetzlichen Anlaufhemmung des § 170 Abs. 5 Ziff. 1 AO (Abgabenordnung) trete auch dann nicht ein, wenn andere Beteiligte des Erbscheinsverfahrens den Beschluss des Nachlassgerichts durch eine Beschwerde anfechten.
Fazit: Negative Folgewirkungen für erbschaftsteuerpflichtige Erben nicht ausgeschlossen
Das Urteil des Bundesfinanzhofes vom 27.04.2022 sorgt für eine wesentliche Klarstellung für alle Erbschaftsteuerpflichtigen und insbesondere für die Beratungspraxis. Spätestens dann, wenn das zuständige Nachlassgericht im Rahmen eines konfliktreichen Erbscheinsverfahrens die Erbenstellung eines oder mehrerer Beteiligter durch Beschluss feststellt, beginnt die Festsetzungsfrist für die Erbschaftsteuer gemäß § 170 Abs. 5 Ziff. 1 AO (Abgabenordnung). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Entscheidung für Steuerpflichtige negative Folgewirkungen bedingt. Man wird annehmen dürfen, dass die Finanzämter zur Vermeidung des Eintritts der Festsetzungsverjährung zukünftig die Abgabe der Erbschaftsteuererklärung forcieren und sodann die Erbschaftsteuer gegen den oder die im Beschluss des Nachlassgerichts genannten Erben festsetzen werden – unabhängig davon, ob eine Anfechtung des Beschlusses erfolgte und deshalb dem oder den Erben der Zugriff auf die Mittel des Nachlasses jedenfalls für die Dauer des Beschwerdeverfahrens versperrt ist. Liquiditätsprobleme zulasten des oder der Erben dürften in diesen Fällen bereits aufgrund der regelmäßig erheblichen Verfahrensdauer -in dem vorliegenden Fall immerhin 14 Jahre vorprogrammiert sein.