München. In einem geerbten Familienhaus müssen hinterbliebene Ehepartner oder Kinder nicht immer zehn Jahre, um von der Erbschaftssteuer befreit zu werden. Der Bundesfinanzhof (BFH) in München entschied in einem am Donnerstag, 4. August 2022, veröffentlichten Urteil (Az.: II R 1/21), dass die Erbschaftsteuerbefreiung nicht rückwirkend verloren geht, wenn „zwingende Gründe“, wie etwa eine schwere Erkrankung, die Nutzung des Hauses auch vor Ablauf der gesetzlichen Zehnjahresfrist unzumutbar machen.
Wenn Kinder oder ein Ehepartner das Haus der Familie erben, dann können sie sich unter bestimmten Voraussetzungen von der Erbschaftssteuer befreien lassen. Vom Gesetzgeber ist dafür vorgesehen, dass Angehörige das Familienheim selbst für mindestens zehn Jahre nutzen. Laut Gesetz gilt die Steuerbefreiung für Wohnflächen bis 200 Quadratmeter.
Der Einzug muss zudem „unverzüglich“ erfolgen. Der BFH hat mit Urteil vom 16. März 2022 bestätigt, dass mit „unverzüglich“ regelmäßig ein Einzug innerhalb von sechs Monaten gemeint ist (Az.: II R 6/21). Dieser Zeitraum kann ausnahmsweise überschritten werden, wenn ein Bezug vorab nicht möglich war, beispielsweise wegen Renovierungsarbeiten oder Handwerkermangel.
Im hier entschiedenen Fall hatte die Klägerin aus Nordrhein-Westfalen das Haus von ihrem verstorbenen Mann geerbt. Das Familienheim bewohnte sie selbst, weshalb das Finanzamt sie von der Erbschaftssteuer befreite. Nach knapp zwei Jahren zog die Witwe jedoch in eine Eigentumswohnung um. Das geerbte Haus verkaufte sie. Sie leide an Depressionen. Nach dem Tod ihres Mannes habe sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert, auch weil sie das Haus früher gemeinsam bewohnten. Von ihrem Arzt sei ihr daher zum Verkauf geraten worden.
Das Finanzamt hob die Erbschaftssteuerbefreiung rückwirkend mit der Begründung auf, dass sie das Haus nicht zehn Jahre lang genutzt hat. Vom Finanzgericht Münster wurde diese Entscheidung bestätigt. Es sei der Klägerin nicht „schlechthin unmöglich gewesen“, das Haus weiter zu bewohnen.
Allerdings argumentierte der BFH in seiner Entscheidung vom 1. Dezember 2021, dass es durchaus „zwingende Gründe“ geben könnte, die einen Auszug aus dem Haus vor Ablauf der Zehnjahresfrist rechtfertigten. Wenn eine Krankheit (in diesem Fall Depression) die weitere Nutzung des geerbten und selbstgenutzten Familienwohnsitzes unzumutbar machen und eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes zu erwarten sei, wenn der Erbe weiterhin in der Immobilie verbleibt, könne die Steuerbefreiung auch bei einem früheren Auszug dennoch gelten.
Das Finanzgericht müsse dies noch einmal überprüfen und anhand von ärztlichen Gutachten die Schwere und den Verlauf einer Depression betrachten.
Allerdings hat der BFH noch nicht geklärt, ob auch Angehörige eine Steuerbefreiung beanspruchen können, wenn sie „aus zwingenden Gründen“ gar nicht erst in die geerbte Familienimmobilie einziehen können. Die bisherige Rechtsprechung ging davon aus, dass der Einzug in ein geerbtes Haus eine unabdingbare Voraussetzung für den Steuervorteil ist.
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