Karlsruhe. Wenn die Presse in teilweise identifizierbarer Weise über eine Anklageerhebung gegen einen mutmaßlichen Straftäter berichtet, ist es nicht erforderlich, für diese Berichterstattung eine Stellungnahme des Angeklagten einzuholen. Sonst würde es zu einer zumindest erheblichen Erschwerung der tagesaktuellen Berichterstattung über Teile einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung kommen, hat der Bundesgerichtshof Karlsruhe (BGH) in einem am Dienstag, 12. Juli 2022 veröffentlichten Urteil entschieden (Az.: VI ZR 95 /21).
Im streitigen Fall berichtete die Bild-Zeitung am 28. Februar 2018 über ein Strafverfahren gegen einen Zahnarzt in Köln. Dieser Artikel befasste sich nur mit den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft und der erfolgten Verlesung der Anklageschrift am ersten Verhandlungstag. Demnach sollen der Zahnarzt und andere Personen über eine Briefkastenfirma elektronische Geräte für insgesamt 2,3 Millionen Euro gekauft aber nicht bezahlt haben. Die Geräte sollten dann weiterverkauft werden.
In dem Artikel wurde der Vorname des Arztes und der Anfangsbuchstabe seines Nachnamens genannt. Erwähnt wurde auch, dass er „eine schöne Praxis in der Kölner Innenstadt“ betreibt.
Das Landgericht verurteilte den Zahnarzt schließlich wegen Betrugs, Nötigung und Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.
Der Zahnarzt sah jedoch in der Berichterstattung über die Anklageerhebung eine Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte. Aufgrund der Nennung des Vornamens und des Anfangsbuchstabens des Nachnamens sowie der Nennung des Praxissitzes könnten Freunde und Bekannte ihn identifizieren. Dies erschwerte seine Resozialisierung. Das Verlesen der Anklageschrift stelle eine Verdachtsberichterstattung dar. In einem derartigen Fall hätte der Journalist der Bild ihn um eine Stellungnahme bitten müssen.
Der BGH urteilte am 31. Mai 2022, dass dem Zahnarzt kein Anspruch auf Unterlassung zusteht. Wahre Tatsachenbehauptungen, wie etwa die Verlesung einer Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft, müssten in der Regel hingenommen werden. Der Persönlichkeitsschutz müsse bei einer Verdachtsberichterstattung zwar mit der Pressefreiheit abgewogen werden, in einer aktuellen Berichterstattung über Straftaten sei jedoch im Allgemeinen dem Informationsinteresse Vorrang einzuräumen.
Die Berichterstattung der Bild wie deshalb von Anfang an zulässig gewesen. Es sei aus dem Artikel auch deutlich zu entnehmen, dass es sich hier nur um eine Anklage gehandelt habe und das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Es habe hier keine Vorverurteilung gegeben. Zwar liege mit der eingeschränkt identifizierbaren Verdachtsberichterstattung eine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte des Klägers vor, das öffentliche Interesse an der Berichterstattung über die Klage sei aufgrund des Schadens in Millionenhöhe aber höher zu bewerten. Zumal der Angeklagte als sich als Zahnarzt auch noch in einer herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung befinde.
Die Presse müsse sich bei einer identifizierbaren Berichterstattung auf einen „Mindestbestand an Beweistatsachen“ stützen. Bei der Anklageerhebung vor Gericht sei dies der Fall. Auch müssten Medien Gegenstand und Inhalt einer Hauptverhandlung verbreiten können. Der BGH betonte, dass Sie nicht selbst zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft recherchieren oder gar den Angeklagten zu einer Stellungnahme auffordern müssten.
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