Kassel (jur). Wenn jugendliches Imponiergehabe zu Leichtsinn wird, schließt dies den Schutz durch die gesetzliche Unfallversicherung nicht aus. Mit diesem Hinweis sprach das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel einem zum Unfallzeitpunkt knapp 16-jährigen Schüler Leistungen der Schülerunfallversicherung wegen eines Unfalls beim „Bahnsurfen“ zu (Az.: B 2 U 3/21 R). Gerade Schüler seien besonders schutzbedürftig.
Im Januar 2015 hatte der Gymnasiast aus Brandenburg wie üblich nach Schulende einen Regionalexpress bestiegen, um nach Hause zu kommen. Während der Fahrt öffnete er mit einem mitgebrachten Vierkantschlüssel die verschlossene Durchgangstür des letzten Waggons und kletterte auf die dahinter schiebende Lok. Tatsächlich gelangte er auf deren Dach, geriet dort aber an die Oberleitung. Er erlitt einen Starkstromschlag und stürzte brennend vom Zug. Der Schüler überlebte, zog sich aber an gut einem Drittel der Hautflächen schwere Verbrennungen zu.
Seinen Antrag auf Anerkennung eines versicherten Schülerunfalls lehnte die Schülerunfallversicherung ab. Auch das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg meinte, der Jugendliche sei reif genug gewesen, um die Gefahren seines Tuns zu erkennen.
Diese Einschätzung widersprach nun das BSG. Es hob das LSG-Urteil auf und gab – wie schon in der ersten Instanz das Sozialgericht Potsdam – der Klage statt.
Schüler seien besonders schutzbedürftig, erklärten die Kasseler Richter zur Begründung. Der in der Unfallversicherung übliche Maßstab einer rational ausgerichteten „Handlungstendenz“ tauge bei pubertierenden Jugendlichen nicht. Auch gute Schulzeugnisse böten „keinen Schutz vor alterstypischer Selbstüberschätzung“. Schüler seien daher auch „bei spielerischen Betätigungen im Rahmen schülergruppendynamischer Prozesse unfallversichert“.
Hier habe der Schüler „cool sein“ und seinen Mitschülern imponieren wollen. Bisherige Surfaktionen auf S-Bahnen seien ihm unfallfrei gelungen. Dadurch habe er „eine Sorglosigkeit erworben, die zu einer massiven alterstypischen Selbstüberschätzung führte und ihn darauf vertrauen ließ, es werde weiterhin alles gut gehen“, befanden die obersten Sozialrichter. Durch das Klettern auf die Lok habe er auch nicht den versicherten Heimweg verlassen.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock