Arbeitsrecht

Kein Anspruch des Arbeitnehmers auf ein bEM

Zuletzt bearbeitet am: 03.04.2022

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 07.09.2021 zum Aktenzeichen 9 AZR 571/20 entschieden, dass § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX keinen Individualanspruch der betroffenen Arbeitnehmer auf Einleitung und Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) begründet.

Der Kläger kann die Klageforderung nicht auf § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX stützen. Dies ergibt die Auslegung der Bestimmung.

Für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Der Wortlaut gibt nicht immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers. Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich. Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liegt, kommt den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes eine Indizwirkung zu.

Ausgehend von diesen Grundsätzen begründet § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX, auch wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm erfüllt sind, keinen Individualanspruch der betroffenen Arbeitnehmer auf Einleitung und Durchführung eines bEM. Dieses Ergebnis steht mit dem Wortlaut von § 167 Abs. 2 SGB IX im Einklang und entspricht der Systematik der Bestimmung, wie der von Kapitel 3 Teil 2 des SGB IX.

Nach § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX können die zuständige Interessenvertretung iSd. § 176 SGB IX, bei schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung, die nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gebotene Klärung verlangen. Sie wachen nach § 167 Abs. 2 Satz 8 SGB IX darüber, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfüllt. Entsprechende Rechte und Aufgaben sieht die gesetzliche Regelung für die betroffenen Arbeitnehmer nicht vor. Dem Gesetzgeber war damit nicht nur bewusst, dass die – notfalls gerichtliche – Durchsetzung des bEM einen Anspruch iSv. § 194 Abs. 1 BGB voraussetzt, dh. das Recht von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Die Regelungssystematik lässt zudem darauf schließen, dass § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX Rechtsschutzdefizite in Kauf genommen hat, die entstehen könnten, weil die tatsächliche Einleitung und Durchführung des bEM rechtlich nicht durch einen Individualanspruch des Arbeitnehmers abgesichert ist.

Die Systematik des SGB IX bestätigt dieses Verständnis. Kapitel 3 des Teils 3 des SGB IX unterscheidet zwischen sonstigen Pflichten der Arbeitgeber und Rechten der (schwerbehinderten) Arbeitnehmer und bringt damit zum Ausdruck, dass nicht jeder Pflicht des Arbeitgebers ein entsprechender Anspruch bzw. ein entsprechendes Recht des Arbeitnehmers gegenübersteht. Räumt das Gesetz den Arbeitnehmern Ansprüche ein, werden diese ausdrücklich als solche bezeichnet, wie zB in § 164 Abs. 4 SGB IX. Dies ist in § 167 Abs. 2 SGB IX nicht geschehen.

Ein von der Gesetzessystematik abweichendes Auslegungsergebnis kann aus den Gesetzesmaterialen nicht abgeleitet werden. Diese verhalten sich nicht zu der Frage, ob § 167 Abs. 2 SGB IX einen Individualanspruch des Arbeitnehmers begründet.

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