Kassel (jur). Bei einem gerichtlich angeordneten medizinischen Gutachten muss die zu begutachtende Person nicht alleine hin. Sie kann regelmäßig verlangen, dass eine Vertrauensperson bei der Begutachtung mit anwesend ist, urteilte am Donnerstag, 27. Oktober 2022, das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel (Az.: B 9 SB 1/20 R). Nur wenn im Einzelfall die Mitnahme der Begleitperson „die objektive, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert“ wird, könne das Gericht, nicht aber der Gutachter, den Ausschluss der Vertrauensperson von der Begutachtung anordnen.
Damit bekam der aus Niedersachsen stammende Kläger von den obersten Sozialrichtern recht. Dem Mann musste wegen eines Tumors ein Teil seines Schulterblattes entfernt werden. Gerichtlich hatte er wegen seiner Erkrankung einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 erstritten. Damit galt er als schwerbehindert und konnte etwa von einem besonderen Arbeitsrechtsschutz wie Kündigungsschutz und Anspruch auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz profitieren. Wie bei Tumorerkrankungen meist üblich, galt eine fünfjährige „Heilungsbewährung“, d. h., nach dieser Zeit muss der Betroffene seine Schwerbehinderung noch einmal überprüfen lassen.
Die zuständige Behörde ging nun von einem GdB von 20 aus.
Der Kläger zog vor Gericht und wollte weiter seine Schwerbehinderung festgestellt haben.
Das Sozialgericht Osnabrück ordnete ein Sachverständigengutachten über den GdB an. Doch als der Mann zur ärztlichen Untersuchung beim Orthopäden auch seine Tochter als Vertrauensperson mitnehmen wollte, lehnte der Arzt ab. Die Anwesenheit der Tochter erschwere die „Erhebung objektiver Befunde“. Auch wenn die Angehörige nichts sage, könne sie nonverbal die Begutachtung beeinflussen. Ohne Erfolg wies der Kläger darauf hin, dass er wegen eines zuvor erlittenen ärztlichen Behandlungsfehlers Angst vor medizinischen Untersuchungen habe und zur Beruhigung die Anwesenheit einer Vertrauensperson wünsche.
Der vom Gericht beauftragte zweite Gutachter lehnte die Anwesenheit einer Vertrauensperson ebenfalls ab. Der Arzt fürchtete, dass ihm Fehler bei der Begutachtung angelastet werden könnten. Da der Kläger auf die Anwesenheit seines Angehörigen bestand, kam keine Begutachtung zustande.
Das Landessozialgericht (LSG) Celle urteilte, dass der Kläger damit seine Mitwirkungspflicht an der Begutachtung verletzt habe. Nach der vorliegenden Erkenntnislage könne der Kläger keinen GdB von mehr als 30 beanspruchen. Die Begutachtung ohne Anwesenheit einer Vertrauensperson sei zumutbar.
Das beklagte Land hatte noch darauf verwiesen, dass die Mitnahme einer Vertrauensperson nicht erforderlich sei, da die gerichtlich bestellten Sachverständigen sowieso unabhängig seien. Es bestehe zudem die Gefahr, dass mit Anwesenheit einer Begleitperson einen Tag später vermeintliche Begutachtungsfehler auf Twitter veröffentlicht werden.
Das BSG gab jedoch dem Kläger recht. Bei einer vom Gericht angeordneten medizinischen Begutachtung habe die zu begutachtende Person regelmäßig Anspruch darauf, eine Vertrauensperson mitzunehmen. Dies gebiete das Recht auf ein faires Verfahren und das allgemeine Persönlichkeitsrecht der zu begutachtenden Person. Nur ausnahmsweise könne die Mitnahme einer Vertrauensperson von der Begutachtung ausgeschlossen werden.
Danach kann das Gericht, aber nicht der Gutachter, den Ausschluss der Vertrauensperson anordnen, wenn ihre Anwesenheit „eine geordnete, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert“. Dies könne etwa von der Beziehung des Beteiligten zur Begleitperson abhängen oder auch bei psychischen Erkrankungen erforderlich sein.
Hier sei die Anwesenheit der Begleitperson nur pauschal abgelehnt worden. Das LSG müsse den Fall daher noch einmal prüfen und auch klären, ob die Feststellung des GdB nicht nach Aktenlage entschieden werden könne.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock