Kassel (jur). Schwer kranke Patientinnen und Patienten können nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) leichter mit innovativen, noch nicht dem medizinischen Standard entsprechenden Therapien behandelt werden. Weist die Studienlage bei der neuen Methode auf das Potenzial einer effektiven Behandlung hin und scheide die Standardtherapien im konkreten Fall aus oder sei sie mit schweren Nachteilen verbunden, kann die Krankenkasse zur Kostenübernahme der neuen Therapie verpflichtet sein, urteilten am Dienstag, 13. Dezember 2022, die Kasseler Richter (Az.: B 1 KR 25/20 R).
Als Beleg für das Potenzial der neuen Behandlungsmethode ist es danach nicht erforderlich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) oder ein unabhängiges Institut wie das IQWIG diese entsprechend schon bewertet hat.
Hintergrund des Rechtsstreits war die Behandlung eines schwer lungenkranken Mannes im Rhein-Maas-Klinikum in Aachen. Er litt insbesondere an der Lungenkrankheit COPD. Wegen einer überblähten Lunge und einer damit einhergehenden Atemnot war seine Lebensqualität zunehmend eingeschränkt.
Im Krankenhaus probierten die behandelnden Ärzte eine neue innovative Methode aus. Dabei wurden endoskopisch Metallspiralen, sogenannte Coils, implantiert, um die überblähten Bereiche zu verringern. Die Methode war zum Zeitpunkt der Behandlung im Jahr 2016 allerdings noch nicht als medizinischer Standard anerkannt. Lediglich acht Studien wiesen auf das Potenzial einer vielversprechenden Behandlung hin.
Die AOK Rheinland/Hamburg lehnte die vom Krankenhaus verlangte Kostenübernahme in Höhe von 23.000 Euro ab. Der Patient hätte auch mit der chirurgischen Entnahme von Lungengewebe behandelt werden können. Die Therapie mit den Coils habe jedenfalls damals nicht den medizinischen Standard und damit dem geltenden Qualitätsgebot entsprochen.
Mittlerweile hat der G-BA im März 2019 für einen Teil der COPD-Patienten die Behandlung mit Coils empfohlen.
Am 25. März 2021 hatte das BSG bereits in neuer Rechtsprechung entschieden, dass auch „individuelle Heilversuche“ im Krankenhaus ausnahmsweise möglich sein müssen (Az.: B 1 KR 25 20 R; JurAgentur-Meldung vom Urteilstag). Die sei dann möglich, wenn eine schwere Erkrankung mit Standardtherapien nicht mehr in den Griff zu bekommen ist. Die neu erprobten Methoden müssten aber das Potenzial eines Behandlungserfolgs haben.
Im aktuellen Fall bestritt die Krankenkasse, dass zum damaligen Behandlungszeitpunkt von einem Potenzial einer erfolgversprechenden Behandlung ausgegangen werden konnte. So habe es keine Bewertung des G-BA oder eines unabhängigen Instituts zu der neuen Behandlungsmethode gegeben. Außerdem habe mit der Reduktion des Lungengewebes eine Standardtherapie zur Verfügung gestanden.
Doch die Revision des Krankenhauses hatte Erfolg. Das BSG verwies das Verfahren an das Landessozialgericht (LSG) Essen zur erneuten Prüfung zurück. Eine vorherige Bewertung des G-BA oder eines unabhängigen Instituts über das Potenzial einer neuen innovativen Behandlungsmethode sei „nicht zwingend“.
Veranlasse der G-BA eine Erprobung der Methode, sei zwar regelmäßig von einem ausreichenden Behandlungspotenzial auszugehen. Eine Kostenübernahme komme aber auch dann infrage, wenn die Studienlage vielversprechend sei und die Standardbehandlung nicht anwendbar sei oder deutliche Nachteilen habe. Dann müssten Vor- und Nachteile von Standard- und neuer Behandlung jeweils im konkreten Fall miteinander abgewogen werden. Voraussetzung sei zudem, dass die Patienten schwerwiegend erkrankt und ihre Lebensqualität auf Dauer eingeschränkt ist.
Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage
Symbolgrafik:© Viewfinder - stock.adobe.com
Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock