Karlsruhe (jur). Ein rechtskräftiger Freispruch eines mutmaßlichen Mörders gilt, selbst wenn später noch neue Beweismittel gegen den Freigesprochenen auftauchen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem am Dienstag, 31. Oktober 2023, verkündeten Urteil entschieden (Az.: 2 BvR 900/22).
Eine gesetzliche Neuregelung, die die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens bei Mord und bestimmten Völkerstraftaten trotz eines vorher ergangenen Freispruchs ermöglichte, ist danach verfassungswidrig. Die Karlsruher Richter gaben damit der Verfassungsbeschwerde eines Mordverdächtigen statt, dem vorgeworfen wurde, im Herbst 1981 die damals 17-jährige Frederike von Möhlmann erst vergewaltigt und dann mit zahlreichen Messerstichen ermordet zu haben.
Das Landgericht Lüneburg hatte den Tatverdächtigen Ismet H. zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil wieder auf. Das Landgericht Verden sprach den Angeklagten daraufhin am 13. Mai 1983 vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes rechtskräftig frei.
Auf Veranlassung des Vaters der ermordeten Frederike konnten 2012 mithilfe einer verbesserten DNA-Untersuchung aufgefundene Spermaspuren im Slip der Toten Ismael H. zugeordnet werden. Mit einer beim Deutschen Bundestag eingereichten Petition wollte der Vater erreichen, dass bei besonders schweren Verbrechen das Strafverfahren gegen mutmaßlichen Straftäter trotz dessen rechtskräftigen Freispruchs wiederaufgenommen werden kann.
Der Gesetzgeber kam dem schließlich nach. Mit der am 30. Dezember 2021 in Kraft getretenen Neuregelung in der Strafprozessordnung konnten bei neuen Beweismitteln die freigesprochenen mutmaßlichen Täter erneut vor Gericht gezogen werden - und zwar auch rückwirkend vor Inkrafttreten des Gesetzes. Dies galt für Mord und bestimmte Völkerstraftaten.
Aufgrund der Gesetzesänderung beantragte die Staatsanwaltschaft im Februar 2022 die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen Ismael H. Er wurde daraufhin verhaftet. Dagegen legte er Verfassungsbeschwerde ein und verwies auf seinen rechtskräftigen Freispruch. Nach einem Eilantrag ordnete das Bundesverfassungsgericht seine Freilassung aus der Untersuchungshaft an.
Das oberste deutsche Gericht erklärte im Hauptsacheverfahren nun die gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens trotz eines zuvor ergangenen rechtskräftigen Freispruchs für verfassungswidrig. Das Gesetz verstoße gegen das verfassungsrechtliche Mehrfachverfolgungsverbot und das Rückwirkungsverbot. Verurteilte und Freigesprochene müssten darauf vertrauen können, dass auch bei Vorliegen neuer Beweismittel ihre Strafverfahren nicht neu aufgerollt werden. Dieses Prinzip diene der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden.
„Der Rechtsstaat nimmt die Möglichkeit einer im Einzelfall unrichtigen Entscheidung vielmehr um der Rechtssicherheit willen in Kauf“, betonte das Bundesverfassungsgericht. Nur bei Urteilen, die wegen schwerwiegender Mängel und unter Nichtbeachtung „rechtsstaatlicher Grundsätze“ ergangen seien, sei ausnahmsweise die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens möglich. Das Vorliegen neuer Beweismittel zähle aber nicht dazu.
Zwar gebe es eine staatliche Schutzpflicht und damit einen Anspruch gegen den Staat auf „effektive Strafverfolgung“. Damit einher gehe aber nur die Pflicht zu einem effektiven Tätigwerden und kein Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis der Strafverfolgung. Hier sei die gesetzliche Neuregelung aber geschaffen worden, um ein „unbefriedigendes“ oder „schlechterdings unerträgliches“ Urteil wieder zu korrigieren.
Da grundsätzlich stets neue Beweismittel und Tatsachen auftauchen könnten, würde ein Strafprozess faktisch nie enden. Dies würde für die Opfer und Hinterbliebenen „eine erhebliche seelische Belastung darstellen, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten ließe, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen wäre“, heißt es weiter in dem Urteil.
Die gesetzliche Neuregelung verstoße zudem gegen das Rückwirkungsverbot. Ein rechtskräftig Freigesprochener müsse darauf vertrauen können, dass der Freispruch auch tatsächlich gilt. Dem werde die im Streit stehende Neuregelung nicht gerecht.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock