I.
Etwa die Hälfte der Bevölkerung, 41,1 Mio. Erwachsene, tragen in Deutschland eine Brille. Viele Menschen haben darüber hinaus andere Augenleiden. Ab einem bestimmten Alter kommt die sogenannte Alterssichtigkeit dazu. Etwa ab dem 40. Lebensjahr verlieren Menschen die Fähigkeit, die körpereigene Linse im Auge von Fern- auf Nahsicht umzustellen und umgekehrt. Das führt dazu, dass viele Menschen eine Brille ab diesem Alter benötigen, sei es für die Ferne oder für die Nähe.
Es gibt mittlerweile spannende Behandlungsmöglichkeiten. Neben der sogenannten bifokalen, trifokalen oder multifokalen Brille gibt es auch bifokale, trifokale und multifokale Linsen, die in das Auge eingesetzt werden können. Mit einer solchen Linse kann in vielen Fällen die sogenannte Alterssichtigkeit (auch Presbyopie genannt) behoben werden.
Die Frage, ob es sich hierbei um eine Krankheit im Rechtssinne handelt, war lange Zeit umstritten.
Der Hintergrund ist, dass im Rahmen rechtlicher Auseinandersetzungen medizinische Sachverständige zurate gezogen werden müssen. Diese werden von Gerichten als Sachverständige beauftragt. Mediziner haben eine eigene Terminologie, das heißt einen eigenen Krankheitsbegriff, der von dem juristischen Krankheitsbegriff abweicht. Deshalb ordnen viele Mediziner die sogenannte Alterssichtigkeit nicht als Krankheit ein, weil sie „jeder“ ab einem bestimmten Alter bekommt. Juristisch gesehen handelt es sich aber um eine korrekturbedürftige Fehlsichtigkeit, die im Rahmen der privaten Krankheitskostenversicherung erstattungspflichtig ist.
II.
Viele private Krankheitskostenversicherer lehnen die Übernahme der Kosten ambulanter Heilbehandlungen am Auge, der sogenannten refraktiven Chirurgie, kategorisch ab. Hintergrund ist oft ein rein betriebswirtschaftlicher: Wenn ein Krankheitskostenversicherer einhundertmal (zu Unrecht) ablehnt, entschließen sich nach meiner Erfahrung nur etwa 20 bis 30 Versicherungsnehmer zu einer Klage. Der überwiegende Rest wehrt sich gegen die Entscheidung nicht und nimmt diese hin. So kann der private Krankheitskostenversicherer bequem die prozessualen Auseinandersetzungen mit dem kleinen Teil von 20 % bis 30 % der Ablehnungen querfinanzieren.
Dieses Phänomen war bereits bei der Frage der Erstattungsfähigkeit der sogenannten LASIK-Augenlaseroperation relevant. Seit den 90er-Jahren gibt es eine Methode, mit der von der körpereigenen Linse Material abgetragen wird, um eine andere Brechkraft zu erreichen. Damit kann ein Zustand herbeigeführt werden, der dem gesunden Zustand des Auges nahekommt. Bei der LASIK wird zunächst mit einem Mikrokeratom („Hobel“) eine ca. 0,1 mm bis 0,15 mm dicke Lamelle der Hornhaut teilweise abgetrennt und wie ein Deckel umgeklappt. Bei der modernsten Form der LASIK, der Femto-LASIK oder auch Laser-LASIK, ersetzt der Femtosekundenlaser das Mikrokeratom (ein kleines Skalpell). Anschließend wird mittels des Excimer-Lasers das Innere der Hornhaut abgetragen, um die Fehlsichtigkeit auszugleichen. Danach wird die Hornhautlamelle wieder zurückgeklappt, sie arretiert sich von selbst. Die Erfolgschancen sind hier nahe bei 100 %, Risiken sind mittlerweile weitgehend minimiert.
So besteht eine bequeme Möglichkeit, auf Brille oder Kontaktlinsen als Hilfsmittel zu verzichten. Die ambulante Heilbehandlung wird mittlerweile von mehreren Hunderttausend Menschen jährlich genutzt.
Lange Zeit herrschte hier rechtliche Unsicherheit. Auch wenn viele Instanzgerichte den Versicherten gaben, so gab es zunächst keine obergerichtliche Entscheidung des BGH. Erst 2017 hat der Bundesgerichtshof die Erstattungsfähigkeit der Kosten einer LASIK-Operation an den Augen bestätigt (BGH, Urteil vom 29.03.2017, IV ZR 533/15).
Dabei hat der Bundesgerichtshof hat den Krankheitsbegriff scharf definiert und klargestellt, dass eine Krankheit im Sinne der Musterbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaus-tagegeldversicherung auch dann vorliegt, wenn der fragliche Gesundheitszustand des Versicherten in gleicher Weise bei ca. 30 % bis 40 % der Menschen entsprechenden Alters auftritt. Erfüllt die Fehlsichtigkeit eines Versicherten die Voraussetzungen einer bedingungsgemäßen Krankheit, so kann die medizinische Notwendigkeit einer LASIK-Operation an den Augen nicht allein wegen der Üblichkeit des Tragens einer Brille oder von Kontaktlinsen verneint werden.
Damit war die Frage der Erstattungsfähigkeit der Kosten einer LASIK-Operation durch die privaten Krankheitskostenversicherer grundsätzlich geklärt, und zwar zugunsten der Versicherungsnehmer.
Es gibt aber eine ganze Reihe weiterer Methoden der refraktiven Chirurgie. Neben der LASIK-Operation ist weit verbreitet der sogenannte refraktive Linsentausch (RLA) bzw. Refractive Lens Exchange (RLE), also der Austausch der Augenlinse gegen eine Kunstlinse zum Ausgleich einer Fehlsichtigkeit.
Dies wird häufig im Zusammenhang mit sogenannten Katarakterkrankungen, also dem Grauen Star (Linsentrübung) vorgenommen. Auch isoliert ist diese Methode aber medizinisch anerkannt. Beim RLA wird das Auge am Rand der Hornhaut eröffnet und es wird wie bei der modernen Kataraktchirurgie die Augenlinse entfernt und durch eine Kunstlinse ersetzt. Die Kunstlinse verfügt entweder über einen Brennpunkt (monofokale IOL) oder aber über zwei und mehr Brennpunkte (multifokale IOL), sie erfüllt damit die gleiche Funktion wie eine Gleitsichtbrille. Zudem kann sie asphärisch sein und gegebenenfalls einen Zylinder korrigieren (torische IOL bzw. torische multifokale IOL).
III.
Auch hier machen sich die Versicherer das System der deutschen Zivilgerichtsbarkeit zunutze:
Grundsätzlich muss jeder einzelne Fall zu Gericht gebracht werden. Es werden jeweils nur Einzelfallentscheidungen gefällt. Solange keine obergerichtlichen Entscheidungen vorliegen auf OLG- oder BGH-Basis, ist es in jedem einzelnen Verfahren schwierig, zugunsten der Versicherungsnehmer zu argumentieren.
Umso erfreulicher ist es, dass sich mittlerweile die Rechtsprechung bezüglich der Erstattungsfähigkeit des refraktiven Linsentausches unter Einsatz monofokaler oder auch multifokaler Linsen festigt.
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat 2019 die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung durch refraktiven Linsentausch auch bei geringer Fehlsichtigkeit ausdrücklich bejaht (OLG Stuttgart, Urteil vom 11.04.2019 - 7 U 146/18) . Im Leitsatz heißt es:
„Auch eine geringgradige Fehlsichtigkeit ist mit Blick auf die bestehende Korrekturbedürftigkeit eine Krankheit im Sinne von § 1 Abs. 1 MB/KK.
Ein refraktiver Linsentausch stellt sich auch bei nur geringgradiger Fehlsichtigkeit als medizinisch notwendige Heilbehandlung nach § 1 Abs. 2 MB/KK dar. Liegen Kontraindikationen nicht vor, kann eine Indikation allerdings dann verneint werden, wenn Risiken und Nebenwirkungen so hoch wären, dass sie bereits aus objektiver Sicht die Vornahme des Linsentausches beim Kläger ausschließen würden.“
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat die Entscheidung sehr ausführlich begründet.
Hintergrund ist letztendlich, dass zum einen mit dieser Entscheidung die Alterssichtigkeit als Krankheit anerkannt wird wie auch unter Zugrundelegung der oben zitierten Rechtsprechung des BGH vom 29.03.2017. Weiter kommt dort zum Ausdruck, dass medizinisch die Voraussetzungen für den Anwendungsbereich des refraktiven Linsentausches keine besonders hohe Fehlsichtigkeit vorsehen, soweit es um Weitsichtigkeit geht.
Mittlerweile habe ich ein weiteres Verfahren vor dem Oberlandesgericht München gewonnen.
Das Oberlandesgericht Koblenz folgt ebenfalls der Linie des BGH und des OLG Stuttgart. In einem Hinweisbeschluss vom 07.05.2021 im Verfahren 7 Un 1472/20 legt das Gericht seine Rechtsauffassung dar. In dem Hinweisbeschluss führt das Gericht aus (vgl. Oberlandesgericht Koblenz, Az. 10 U 1472/20):
„Die Operation stellt sich ... als Heilbehandlung einer Krankheit des Klägers dar. Die Korrekturbedürftigkeit des bei dem Kläger vor der Operation bestehenden Zustands steht medizinisch außer Frage und der Sachverständige hat auch die medizinische Indikation für die erfolgte Behandlung dieses Zustands in seinem Gutachten ausdrücklich bejaht. Zu den Einzelheiten des Krankheits- und Heilbehandlungsbegriffs, insbesondere bei Fehlsichtigkeit, kann insoweit ergänzend auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 29. März 2017 - IV ZR 533/15, VersR 2017, 608) verwiesen werden.“
Weiter führt das Oberlandesgericht Koblenz aus:
„Die Leistungspflicht des Beklagten hängt davon ab, ob die durchgeführte Operation medizinisch notwendig war, was der Fall ist, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung vertretbar war, sie als notwendig anzusehen. Von der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlung in diesem Sinne ist auszugehen, wenn die angewandte Behandlungsmethode geeignet ist, die Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Steht diese Eignung nach medizinischen Erkenntnissen fest, ist grundsätzlich eine Eintrittspflicht des Versicherers gegeben (BGH, a. a. O.).“
IV.
Die Einordnung und Qualitätssicherung von Behandlungsmethoden der refraktiven Chirurgie werden durch die KRC, die Kommission Refraktive Chirurgie, durchgeführt. Es handelt sich hier um den Zusammenschluss der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) und des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands (BVA), die die sogenannten KRC-Leitlinien veröffentlichen. Diese sind im Internet unter aad.to/krc/qualit.pdf abrufbar.
Unter Ziffer 7 sind dort die Voraussetzungen für den refraktiven Linsentausch unter Einsatz monofokaler und multifokaler Linsen wiedergegeben (vgl. Seiten 10 ff.). Dort ist ersichtlich, dass der Anwendungsbereich eines solchen Linsentausches in folgenden Fällen gegeben ist. Bezüglich der mehrfokalen (bifokalen/trifokalen und quadrifokalen) IOL ist geregelt, dass diese bei
- hoher Myopie (also Kurzsichtigkeit) mit mehr als -6 dpt bei gleichzeitig bestehender Presbyopie (Alterssichtigkeit) zur Anwendung kommt
oder
- bei Hyperopie (wobei auf keine besonderen Fehlsichtigkeitswerte oder eine besonders starke Fehlsichtigkeit Wert gelegt wird) bei gleichzeitig bestehender Presbyopie (Alterssichtigkeit).
Diese Sichtweise findet immer mehr Stütze in der Rechtsprechung.
V.
Demnach lässt sich festhalten, dass
- Lasik-Operation: Patienten, die sich einer LASIK-Augenlaseroperation unterzogen haben, auf Grundlage des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 29.03.2017 - IV ZR 533/15 - von ihrem privaten Krankheitskostenversicherer bedingungsgemäß im Rahmen des versicherten Tarifes Erstattung der Behandlungskosten verlangen können.
- Refraktiver Linsentausch: Nach den zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Stuttgart und des Oberlandesgerichts München wie auch nach der durch Hinweisbeschluss kundgetanen Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Koblenz mittlerweile eine ganze Reihe von Oberlandesgerichten die Auffassung vertritt, dass die sogenannte Alterssichtigkeit Krankheitswert hat und diese grundsätzlich durch einen sogenannten refraktiven Linsentausch unter Einsatz monofokaler wie auch bi- oder multifokaler Linsen beseitigt werden kann.
Fall Sie Fragen zu den Methoden der refraktiven Chirurgie bzw. deren Erstattungsfähigkeit im Rahmen der privaten Krankheitskostenversicherung haben, kommen Sie gerne auf mich zu.