Auf Autobahnen gilt normalerweise nur eine Richtgeschwindigkeit. Gleichwohl müssen Autofahrer beim Überschreiten eventuell mit Konsequenzen rechnen. Doch gilt dies immer?
Was Richtgeschwindigkeit bedeutet
Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten müssen Autofahrer auf Autobahnen in Deutschland gewöhnlich keine bestimmte Höchstgeschwindigkeit einhalten. Eine Ausnahme gilt nur, soweit ein Verkehrsschild aufgestellt ist, das eine Höchstgeschwindigkeit vorschreibt – was vielerorts der Fall ist. Auf deutschen Autobahnen gilt lediglich durchgängig eine sogenannte Richtgeschwindigkeit von 130 km/h. Wie bereits der Wortlaut nahelegt, handelt es sich hierbei lediglich um eine Empfehlung. Dies ergibt sich zudem aus § 1 Autobahn-Richtgeschwindigkeits-V.
Das bedeutet: Der Autofahrer braucht - anders als beim Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit - allein aufgrund der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit weder mit einem Bußgeld, noch mit Punkten in Flensburg oder gar einem Fahrverbot zu rechnen.
Gleichfalls müssen sie beim Überschreiten der Richtgeschwindigkeit mit einer unangenehmen Überraschung rechnen, wenn es zu einem Unfall kommt. Hier müssen sie damit rechnen, dass sie vor allem als Halter im Rahmen der Mithaftung herangezogen werden.
Erster Fall: Autofahrer fährt mit 200 km/h auf Überholspur
Welche Konsequenzen dies haben kann, wird an den folgenden Fall deutlich. Ein PKW-Fahrer fuhr auf der Überholspur einer Autobahn mit 200 km/h. In diesem Abschnitt gab es keine Geschwindigkeitsbegrenzung. An einer Autobahneinfahrt wechselte ein anderes Fahrzeug direkt vom Einfädelstreifen auf die Überholspur, ohne auf den Verkehr zu achten. Infolgedessen kam es zu einer Kollision. Der Halter des einfädelnden Wagens verlangte beim Einfahren auf die Autobahn von dem anderen Halter Schadensersatz.
Das Oberlandesgericht Koblenz entschied mit Urteil vom 14.10.2013 - 12 U 313/13, dass der Halter des einfädelnden Wagens trotz dieses erheblichen Fahrfehlers - in Form eines Verstoßes gegen § 5 Abs. 4 StVO - 40% des bei ihm entstandenen Schadens ersetzt verlangen kann.
Dies ergab sich daraus, dass im Rahmen der Abwägung der beiden Verursachungsbeiträge innerhalb der Gefährdungshaftung gem. § 17 Abs. 1 StVG berücksichtigt werden muss, dass von dem rasenden PKW auf der Überholspur eine erhebliche Betriebsgefahr ausging. Diese ergibt sich daraus, dass er die Richtgeschwindigkeit um ungefähr 60% überschritten hatte. Die Richtgeschwindigkeit ist nämlich gerade dafür empfohlen worden, um Gefahren herabzusetzen, die auf den Betrieb eines Kraftfahrzeugs mit hoher Geschwindigkeit erfahrungsgemäß herrühren. Wer hingegen, zumal wie vorliegend bei Dunkelheit, die Richtgeschwindigkeit in massiver Art und Weise ignoriert, führt zu Gunsten seines eigenen schnellen Fortkommens den gegebenen Unfallvermeidungsspielraum nahezu gegen Null zurück. Eine Geschwindigkeit im Bereich von 200 km/h ermöglicht es in der Regel nicht mehr, Unwägbarkeiten in der Entwicklung einer regelmäßig durch das Handeln mehrerer Verkehrsteilnehmer geprägten Verkehrssituation rechtzeitig zu erkennen und sich darauf einzustellen.
Zweiter Fall: Fahrer fährt 170 km/h auf Überholspur
In einem ähnlichen Fall fuhr ein Autofahrer von einer Raststätte auf die Autobahn und wechselte zeitnah auf die Überholspur. Dabei kam es zu einem Auffahrunfall mit einem Fahrzeug, das mit 170 km/h auf der Überholspur fuhr. Der Fahrer und Halter des auffahrenden Wagens verlangte Schadensersatz.
Obwohl dem Fahrer des einfädelnden Wagens ein erhebliches Verschulden wegen Verstoßes gegen § 5 Abs. 4 StVO vorzuwerfen war, kürzte das Oberlandesgericht Stuttgart mit Urteil vom 11.11.2009 - 3 U 122/09 den Anspruch des auf der Überholspur befindlichen Halters auf Schadensersatz aus § 7 Abs. 1 StVG um 20%. Die Richter begründeten dies damit, dass er trotz Dunkelheit die Richtgeschwindigkeit erheblich überschritten hatte. Dies muss im Rahmen der Verursachungsbeiträge gem. § 17 StVG zu seinem Lasten berücksichtigt werden. Anders wäre dies nur, wenn der Unfall auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit passiert wäre. Diesen Nachweis hatte der Halter des Fahrzeugs auf der Überholspur jedoch nicht geführt.
Dritter Fall: Wagen fährt 200 km/h schnell
In einem weiteren Fall wechselte eine Autofahrerin zum Überholen auf die linke Fahrspur. Weil sie dabei nicht auf den nachfolgenden Verkehr geachtet hatte, kam es zu einem Auffahrunfall mit einem Wagen auf der linken Fahrspur, der sich mit 200 km/h von hinten genähert hatte. Nachfolgend verlangte sie vom Halter des Fahrzeugs auf der Überholspur Schadensersatz.
Das Oberlandesgericht Düsseldorf entschied mit rechtskräftigem Urteil vom 21.11.2017 - I-1 U 44/17, dass der Halter des auf der Überholspur befindlichen Fahrzeugs aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit trotz des erheblichen Verschuldens des anderen Fahrers für 30% des Schadens aufkommen muss. Dies begründete das Gericht insbesondere damit, dass hier andere Autofahrer die Geschwindigkeit des heranrasenden Fahrzeugs schlechter einschätzen können. Diesbezüglich berufen sich die Richter auf ein Urteil des BGH vom 17.03.1992 - VI ZR 61/91.
Keine Mithaftung bei unerheblicher Überschreitung der Richtgeschwindigkeit?
Nicht immer gehen Gerichte von einer Mithaftung aus, wenn der Fahrer die Richtgeschwindigkeit überschreitet.
Dies ergibt sich beispielsweise aus einem Fall, in dem ein Fahrer auf der linken Fahrspur einer Autobahn mit einer Geschwindigkeit von 150 km/h gefahren war. Nachdem ein anderes Fahrzeug unvermittelt und ohne zu blinken von der rechten auf die linke Fahrspur gewechselt war, kam es zu einem Auffahrunfall. Der Halter des bereits auf der linken Fahrspur befindlichen Fahrzeugs verlangte daraufhin Schadensersatz. Der Halter des Fahrzeugs, das auf die linke Spur gewechselt war, wollte jedoch nicht für den vollständigen Schaden aufkommen. Das Oberlandesgericht Hamm stellte mit rechtskräftigem Beschluss vom 06.02.2018 – I-7 U 39/17 unter Bezugnahme eines Hinweisbeschlusses vom 21.12.2017- I-7 U 39/17 klar, dass der Halter des einscherenden Fahrzeugs vollständig haftet nach § 7 Abs. 1 StVG. Dies ergibt sich daraus, dass der Fahrer dieses Wagens allein verantwortlich ist für den Unfall. Ein Mithaftung des anderen Halters scheidet aus, weil die Richtgeschwindigkeit vom Fahrzeug auf der linken Spur nur maßvoll überschritten worden ist. Hierdurch besteht nicht die Gefahr, dass die Geschwindigkeit des Wagens auf der Überholspur falsch eingeschätzt worden ist.
Ebenso entschied das Oberlandesgericht München mit Urteil vom 02.02.2007 - 10 U 4976/06 in einem ähnlichen Fall, in dem ein Autofahrer unvermittelt von der rechten auf die mittlere Fahrspur gewechselt war. Dabei kam es zu einer Kollision mit einem Fahrzeug auf der mittleren Spur, das ebenfalls mit 150 km/h unterwegs war.
In einem weiteren Sachverhalt war schließlich ein Autofahrer mit einer Geschwindigkeit von etwa 160 km/h bis 170 km/h auf der Überholspur einer Autobahn unterwegs. Als er an einer Autobahneinfahrt vorbeifuhr, fuhr ein anderer Wagen direkt nach dem Einfahren auf die Überholspur. Dabei kam es zu einem Auffahrunfall. Der Halter des voranfahrenden Fahrzeugs - was eingebogen war, nahm den anderen Halter auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch. Hierzu entschied das Thüringer Oberlandesgericht mit Beschluss vom 17.06.2009 - 5 U 797/08, dass ihm diese Ansprüche nicht zustehen. Dies begründeten die Richter damit, dass dem Fahrer des einfahrenden Fahrzeugs ein gravierender Fahrfehler unterlaufen war. Aus der Geschwindigkeit des Fahrers auf der Überholspur von 160 km/h bis 170 km/h ergibt sich kein Mitverschulden. Denn die Autobahn war wenig befahren und gut einsehbar.
Fazit:
Aus diesen Beispielsfällen wird deutlich, dass bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit schnell eine Mithaftung in Betracht kommt, wenn ein Unfall passiert. Das gilt selbst dann, wenn dem Unfallgegner erhebliche Fahrfehler unterlaufen sind. Auf der anderen Seite führt nicht jede Überschreitung der Richtgeschwindigkeit zu einer Mithaftung. Wo hier genau die Grenze verläuft, hängt sehr von den Umständen des Einzelfalls ab.
Autor: Harald Büring, Ass. jur. (Fachanwalt.de-Redaktion)
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