Sozialrecht

Volljährigkeit kein pauschaler Grund für Entzug des Merkzeichens H

Zuletzt bearbeitet am: 19.09.2023

München (jur). Wird bei einem schwerbehinderten Kind Hilflosigkeit (Merkzeichen H) anerkannt, so führt nicht bereits die Vollendung des 18. Lebensjahrs automatisch dazu, dass dieses Merkzeichen entzogen werden kann. Das hat das Sozialgericht München in einem am 11. September 2023 veröffentlichten Urteil entschieden (Az.: S 48 SB 1230/20). Hilflosigkeit kann danach auch ohne körperliche Einschränkungen vorliegen, wie etwa im Streitfall bei Autismus. 

Bei dem 1994 geborenen Kläger besteht ein frühkindlicher Autismus, verbunden mit einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, einer motorischen Entwicklungsstörung und deutlichen sozialen Beeinträchtigungen in mehreren Bereichen. 2007 wurden ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson), G (Beeinträchtigung beim Gehen) und H (Hilflosigkeit) zuerkannt. 

Das Merkzeichen H erlaubt unter anderem die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs und es gibt einen gesonderten Steuerfreibetrag. 

Im Streitfall bestätigte das Versorgungsamt 2020 die bisherigen Einstufungen – mit Ausnahme des Merkzeichens H. Dies werde bei frühkindlichem Autismus ohnehin nur bis zur Volljährigkeit vergeben, weil in der Regel bis dahin der Reifeprozess zu einer ausreichenden Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit führe. 

Dem widersprach der Kläger. Bei sehr vielen alltäglichen Dingen habe er weiterhin einen zeitintensiven Hilfe- und Betreuungsbedarf. 

Dazu betonte nun das Sozialgericht München, die sogenannten Nachteilsausgleiche wie hier das Merkzeichen H dürften nur nach einer Prüfung im Einzelfall entzogen werden. Ein Stichtag wie die Volljährigkeit dürfe daher nicht zu einem automatischen Entzug des Merkzeichens führen. Er könne nur Anlass für eine Prüfung sein, ob die Voraussetzungen weiter erfüllt sind. 

Dies sei beim Kläger eindeutig der Fall. Nach den jüngsten Pflegegutachten zeige er unter anderem kaum Eigenantrieb und habe Probleme bei der Impulskontrolle. Bei vielen Alltagsverrichtungen benötige er eine Ermahnung, Anleitung und Kontrolle, so das Sozialgericht München in seinem jetzt schriftlich veröffentlichten Urteil vom 16. März 2022. 

Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage

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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock

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