Sozialrecht

Anspruch auf Beratungshilfe für mittellose Menschen gestärkt

Zuletzt bearbeitet am: 09.01.2024

Karlsruhe (jur). Mittellose Menschen müssen sich im Streit mit dem Jobcenter auch außergerichtlich wehren und bei komplexen Rechtsfragen zum Anwalt gehen können. Wird zur Finanzierung des Rechtsanwalts dennoch die staatliche Beratungshilfe verweigert, stellt dies eine Verletzung des Anspruchs auf Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Dienstag, 24. Mai 2022, veröffentlichten Beschluss (Az.: 1 BvR 1370/21). Nicht zumutbar sei es, den Hilfebedürftigen zur Beratung an das Jobcenter zu schicken, welches den im Streit stehenden Bescheid erlassen hat.

Konkret ging es um einen Hartz-IV-Bezieher aus Kaufbeuren. Dieser hatte wegen eines erhaltenen Betriebskostenguthabens zu viel Arbeitslosengeld II erhalten. Das Jobcenter berücksichtigte die Betriebskosten nicht einmalig in einem Monat, sondern verteilt auf sechs Monate und minderte entsprechend das Arbeitslosengeld II für ein halbes Jahr.

Der Hartz-IV-Bezieher hatte Zweifel, ob die Behörde die Erstattungsforderung auf sechs Monate verteilen darf. Er wollte für seinen Widerspruch anwaltlichen Rat einholen. Um den Rechtsanwalt bezahlen zu können, beantragte er beim Amtsgericht Kaufbeuren staatliche Beratungshilfe.

Das Amtsgericht wies den Antrag als „mutwillig“ ab. Der Mann könne für seinen Widerspruch zum Jobcenter gehen, welches den Bescheid erlassen hat. Die Behörde sei gesetzlich zur Beratung verpflichtet. Einen Widerspruch gegen den Bescheid könne er ohne anwaltliche Hilfe anfertigen.

Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde ist „offensichtlich begründet“, entschied jedoch das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 4. April 2022. Der Hartz-IV-Bezieher sei in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit verletzt worden. Dies sehe vor, dass mittellose und bemittelte Bürgerinnen und Bürger in gleicher Weise ihr Recht durchsetzen können.

Suchen mittellose Menschen außergerichtlichen Rat, könne mit der staatlichen Beratungshilfe ein Rechtsanwalt bezahlt werden. Der Anspruch bestehe, wenn der Ratsuchende nicht über ausreichende Rechtskenntnisse verfügt und es sich um komplexe rechtliche Fragen handelt. Dann dürfe die Beratungshilfe nicht als „mutwillig“ verweigert werden. So verhalte es sich hier.

Die Frage, ob das Jobcenter wegen einer Erstattungsforderung über sechs Monate lang das Arbeitslosengeld II mindern darf, sei rechtlich komplex. Der Beschwerdeführer durfte auch nicht zur Beratung an das Jobcenter geschickt werden, weil die Behörde den im Streit stehenden Bescheid selbst erlassen hat.

Ähnlich hatte das Bundesverfassungsgericht bereits am 7. Oktober 2015 zur Beratungshilfe entschieden (Az.: 1 BvR 1962/11; JurAgentur-Meldung vom 13. November 2015). Danach muss ein Amtsgericht prüfen, ob zumindest anwaltliche Hilfe für eine sorgfältige Begründung eines Widerspruchs sinnvoll ist. Dann sei die Gewährung von Beratungshilfe angebracht.

Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage

Symbolgrafik:© PeJo - stock.adobe.com

Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock

Diesen Artikel bewerten
Über den Autor





Weitere Artikel der Redaktion zum Thema
Sozialrecht Bundessozialgericht bestätigt: Keine Diskriminierung von Vätern bei Rentenpunkten

Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass die automatische Zuordnung von Kindererziehungszeiten zu Müttern in der Rentenversicherung keine Diskriminierung von Männern darstellt (Az.: B 5 R 10/23 R ). Bundessozialgericht prüft Väter-Diskriminierung bei Kindererziehungszeiten Die standardmäßige Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei der Mutter, wenn keine Einigung zwischen den Eltern erfolgt, wurde vom Bundessozialgericht überprüft. In diesem Fall befasste sich der 5. Senat mit der Frage, ob eine solche Regelung, wie sie in § 56 Absatz 2 Satz 9 SGB VI festgehalten ist, eine verfassungswidrige Benachteiligung von Vätern darstellt. Diese gesetzliche ... weiter lesen

Sozialrecht Verwaltungsgericht Aachen: Hautkrebs eines Polizisten keine Berufskrankheit

Das Verwaltungsgericht Aachen hat in seinem Urteil (Az.: 1 K 2399/23 ) die Hautkrebserkrankung eines ehemaligen Polizisten nicht als Berufskrankheit anerkannt. Polizist fordert Anerkennung von Hautkrebs als Berufskrankheit Ein langjähriger Polizeibeamter, der nahezu sein ganzes Berufsleben im Streifendienst verbrachte, forderte die Anerkennung seiner Hautkrebserkrankung als Berufskrankheit. Der Betroffene argumentierte, während seiner fast 46 Dienstjahre hauptsächlich im Freien tätig gewesen zu sein, ohne dass ihm Schutzmittel gegen UV-Strahlung zur Verfügung gestellt wurden oder auf die Wichtigkeit solcher Schutzmaßnahmen hingewiesen wurde. Aufgrund ... weiter lesen

Sozialrecht LSG-Urteil: Einzelfahrten von Fahrtrainern als Arbeitsunfall anerkannt

Im aktuellen Fall des Landessozialgerichts Baden-Württemberg wurde entschieden, dass die Erkundungsfahrt eines Fahrtrainers als Arbeitsunfall gilt (Az.: L 8 U 3350/22 ). Fahrtrainer-Unfall auf Erkundungsfahrt: Streit um Arbeitsunfall Ein selbständiger Motorrad-Fahrtrainer verletzte sich schwer, als er allein auf Erkundungsfahrt für ein bevorstehendes Training stürzte. Der Unfall ereignete sich 50 km entfernt von seinem Zuhause. Er argumentierte, dass die Fahrt zur Vorbereitung auf ein spezielles Training notwendig war, um die Straßenverhältnisse zu prüfen. Seine Unfallversicherung lehnte die Anerkennung als Arbeitsunfall ab, da sie die Fahrt als private ... weiter lesen

Sozialrecht Landessozialgericht entscheidet: Kein Unfallversicherungsschutz auf indirektem Arbeitsweg

Im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg wurde der Fall einer Klägerin behandelt, die auf einem Umweg zur Arbeit verunfallte und daher keinen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung hatte (Az.  L 10 U 3232/21 ). Mutter nach Umweg-Unfall ohne Versicherungsschutz Eine Frau begleitete ihre Tochter auf dem Schulweg zu einem Treffpunkt, der entgegengesetzt zu ihrer Arbeitsstelle lag. Nach diesem Umweg ereignete sich auf dem Weg zur Arbeit, jedoch noch vor dem Erreichen der direkten Route von ihrer Wohnung aus, ein Unfall, bei dem sie schwer verletzt wurde. Die gesetzliche Unfallversicherung lehnte die Anerkennung als Arbeitsunfall ... weiter lesen

Ihre Spezialisten